Am 21.6.2025 startet wieder ein Kurs zum Facrereading (15 h).
Dieser Blogbeitrag ist erschienen am 1.6.2025 als Teil des Newsletters zum Thema "Familienstellen".
Du kannst den Newsletter bestellen per Mail an newsletter@mitte-intuition.de.
Wir hatten uns letztens unterhalten über die Frage (und auch im letzten Newsletter zum Thema gehabt), ob zum Familienstellen bzw. ob zu Familienaufstellungen denn wirklich auch die Täter dazugehören. Also diejenigen, mit denen wir nicht verwandt oder verschwägert sind: Wie können sie zum Familiensystem dazugehören?
Durch Liebe.
Wie bitte, möchte man da fragen, aber wir Familienaufsteller wissen längst, dass eine Gewalttat dazu führt, dass der Täter ebenfalls als wichtiger Teil des Familiensystems zu berücksichtigen ist.
Aber passt dann noch das Wort „Liebe“?
Was ist denn Liebe?
Was ist denn Liebe?
Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles, vom Frömmsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als höchste Passion, sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten, - Caritas ist gewiß noch in der bewunderungsvollsten oder wüstesten Leidenschaft.
Thomas Mann, Der Zauberberg
Bei Familienaufstellungen geht es immer um Liebe. Aber es geht nicht um „das“ Gefühl. Es geht auch nicht um die vielen Facetten von Liebe, wie im obigen Zitat von Thomas Mann angedeutet. Denn es geht nicht beim Familienstellen nicht um das Vereinen von Polaritäten, sondern es geht um etwas anderes. Aber das nennen wir die Liebe.
Beim Familienstellen geht es um die Seele, und „Liebe“ ist das Wort, das am ehesten passt für die Phänomene, die sich beim Familienstellen zeigen und fühlen lassen. Es geht um „Energie“. Es geht um Lebenskraft. Es geht um Frieden.
Für die Seele hat das Thema "Schuld" keine Bedeutung. Sondern wir Menschen mühen uns mit Schuld und Schuldvorwürfen ab in unserer normalen Welt, der Psychologe würde sagen: In der Außenwelt. Und in der Innenwelt auch, aber nicht mehr nach der Aufstellungsarbeit!
Denn die Aufstellungsarbeit ist der „Schlüssel“, um Verstrickungen zu lösen. Wer verurteilt, hält die Vergangenheit zwangsläufig fest. Dilemma ist nur (im Außenleben und auch gefühlt im Inneren), dass uns das "Standing" fehlt, um etwas zu verzeihen oder ein Tabu zu akzeptieren.
In der Aufstellung aber nehmen der Täter und das Opfer sich in den Arm. Trauernde und zornige Familienmitglieder erkennen, dass ihr Zorn verraucht und ihre Trauer jetzt einen Ort findet (im Rahmen der Aufstellung). Sie sind nicht länger verstrickt, müssen jetzt weder übermäßig trauern noch zornig bleiben.
...
Das sind reine Wunder. Am Ende einer Aufstellung tritt Frieden zwischen den Mitgliedern des Familiensystems ein. Die Herzen öffnen sich, es herrscht eine friedliche Liebe oder Akzeptanz.
Denn allen ist klar – nicht nur uns Fachleuten im Familienstellen -, dass auch ein Täter Teil des Systems ist. Gerade seine Tat hat ihn dazu werden lassen.
Es ist nicht möglich, eine Aufstellung zu leiten, sondern Aufstellungen ergeben sich "von selbst“.
Grundlage aller Aufstellungsarbeit ist ein Phänomen: Die Stellvertreter fühlen sich ohne jedes Vorwissen und ohne Anleitung ein, verorten sich im „Feld“ (also in dem Raum, in dem die Gruppenarbeit stattfindet), sie handeln mit den symbolischen Schritten aufeinander zu oder voneinander weg, sie formulieren Gefühle und sprechen Heilungssätze aus. Und das lernt man nicht. Sondern das ist dann, wenn man eine Rolle in einer Aufstellung hat, „schon da“. Auch ungeübte, unerfahrene Stellvertreter sind genauso wirksam und genauso sensibel für Bewegungen, Gefühle und Worte wie erfahrene Teilnehmer.
Wir Aufstellungsleiter arbeiten manchmal mit Figuren, die entweder von Bert Hellinger empfohlen wurden (zB. die Hinbewegung oder die Aufstellung der Kernfamilie nach ihrem Rang) oder die wir selbst herausgefunden haben. Aber ein Skript ist das nicht. Aber ich persönlich habe schon viele einst wirksame Figuren als nur schwach wirksam erleben müssen und andere, die mir nur jetzt und vielleicht noch niemals zuvor in den Sinn gekommen sind, als hochwirksam.
Jedenfalls sind es die Figuren oder die Positionen, die ein Familiensteller den Stellvertretern empfiehlt, nur Vorschläge. Das "Feld" (also die Stellvertreter) spürt, ob ein Lösungssatz "stimmt" oder nicht.
Insgesamt besteht also kein Skript. Und die absichtslose Haltung aller Beteiligten ergibt auch nicht immer Frieden im Familiensystem. Aber trotzdem stehen Täter und Opfer sich am Ende einer wirksamen Aufstellung nahe und fühlen sich frei von Widerstand gegen den anderen. Sie spüren Zusammengehörigkeit. Der Verstand macht dann Pause, denn wir können mit dem Verstand nicht anders als beurteilen.
Seelisch gibt es kein Urteil, wohl aber Wertschätzung. Und Liebe.
Phänomenologie bedeutet, dass im Familienstellen die Energie, die zwischen den einzelnen Familiensystemmitgliedern fließt (und sei sie auch nur geschwächt weil nicht im geheilten Zustand), gespürt wird.
Diese Energie, die zwischen den Stellvertretern (oder besser: den Familiensystemmitgliedern) fließt, bezeichne ich als „Liebe“ und vermute, dass sie eine Art Liebe unserer Seele ist. Ich vermute, jeder Liebe – und leider auch in echter Gewalt – liegt diese seelische Liebe zugrunde.
Ich war früher Rechtsanwältin und habe Strafrecht gemacht. Es liegt mir fern, Schuld und Verurteilung im Leben zu entwerten oder auch nur zu belächeln. Im Gegenteil glaube ich daran, dass wir das Recht haben, uns zu wehren, andere zu verurteilen und auch zu bestrafen. Die Frage für mich als Familienstellerin lautet jedoch: Wie lange wollen wir Schuld, Strafe und Ausgrenzung betreiben? Und selbst wenn die Antwort „für immer“ lauten kann im Einzelfall: Muss das auf jeder Ebene so sein? Denn auf seelischer Ebene ist das nach einiger Zeit hinderlich und schnürt uns die Lebenskraft und die Kraft aus dem Familiensystem ab.
Familienaufstellungen eröffnet uns wieder den Zugang zu lebensstärkender, gerechter, glücklichmachender und bewusstermachenden Wahrnehmung. Liebe und Verantwortung sind Zustände, die zu erfahren wir durch das Familienstellen eher fähig sind als ohne das Familienstellen.